
Im Juni, wenn die Alm in voller Blüte steht und sich die Höhenlagen des Zirbitzkogels in ein buntes Mosaik aus Moosen, Kräutern und seltenen Blüten verwandeln, beginnt eine besondere Zeit. Der Frühsommer bringt nicht nur Wärme und Licht, sondern auch Geschichten zum Vorschein – erzählt von Pflanzen, die seit der Eiszeit hier oben zuhause sind.
Der Zirbitzkogel ist nicht einfach nur ein Berg. Er ist ein Zeuge der Erdgeschichte, ein stiller Riese aus der Zeit der Gletscher, der sich über Jahrmillionen geformt hat. Als höchste Erhebung im Naturpark Zirbitzkogel-Grebenzen thront er mit 2.396 m uü.d.M. über den Seetaler Alpen – nicht als schroffer Felsturm, sondern als sanfter, mächtiger Grasberg. Seine runde Form verdankt er dem Rückzug der Gletscher am Ende der letzten Eiszeit: Wo einst Eiszungen das Gestein modellierten, blieb eine weite, gewölbte Hochfläche zurück – bedeckt von Matten, Moosen und alpiner Flora.
Hier oben, wo die Bäume schweigen, erzählen die Pflanzen. Jede von ihnen ist ein Kapitel der alpinen Geschichte.
Katzenpfötchen Die sanften Hüter der Kindheit
Zartrosa, weich und fast ein wenig scheu – das Katzenpfötchen (Antennaria dioica) gehört zu jenen Pflanzen, die man leicht übersieht, wenn man nicht genau hinschaut. Und doch fällt es jedem auf, der mit dem Herzen sieht: wie es sich mit seinen filzigen Blättern an den Boden schmiegt, Wind und Kälte trotzt und im Juni kleine rosafarbene Blütenköpfe in den Himmel reckt.
Diese genügsame Schönheit liebt sonnige, trockene Standorte auf nährstoffarmen Almwiesen und Magerrasen. Ihre zweihäusige Blütenstruktur – getrennte weibliche und männliche Pflanzen – macht sie in der Pflanzenwelt zu etwas Besonderem. Noch besonderer ist jedoch ihre Geschichte: In alten Zeiten legte man getrocknete Blüten in die Wiege von Kindern, um sie vor bösen Träumen zu schützen.
Auch in der Volksheilkunde wurde das Katzenpfötchen geschätzt – bei Reizhusten, zur Beruhigung und als zarter Tröster bei Liebeskummer. Wer es heute entdeckt, darf sich sicher sein: Hier ist die Alm noch echt. Hier darf die Natur so sein, wie sie ist – ursprünglich, ruhig und voller Geschichten.


Fünffingerkraut Die schützende Hand der Natur
Wie eine kleine, geöffnete Hand liegt das Fünffingerkraut (Potentilla reptans) auf der Wiese – fünf geteilte Blätter, die sich dem Licht entgegenstrecken. Es wächst bodennah, mit langen, kriechenden Ausläufern, und erobert sanft die offenen Flächen der Alm. Wo es wächst, wird der Boden nicht gestört – hier darf sich die Natur in Ruhe entfalten.
Das Fünffingerkraut liebt sonnige, lockere Standorte und ist oft auf mageren, kalkarmen Böden zu finden. Es wurzelt flach, aber stark, verankert sich fest und breitet sich geduldig aus. In der Heilkunde wurde es traditionell gegen Fieber, Durchfall und innere Unruhe verwendet. Die Blätter wurden als Tee zubereitet, die Wurzeln bei Magenbeschwerden eingesetzt.
Besonders spannend ist seine Rolle im Brauchtum: In früheren Zeiten nähten Mütter es in die Kleidung ihrer Kinder ein – als Schutzsymbol gegen „böse Kräfte“. Seine Form – fünf Blätter, fünf Finger – stand sinnbildlich für die helfende Hand der Natur. Und auch heute noch vermittelt die Pflanze genau dieses Gefühl: Sanft, schützend, tief verwurzelt.
Gemsheide Die Unsichtbare über der Baumgrenze
Ganz nah am Boden und dennoch unübersehbar für jene, die mit wachem Blick durchs alpine Gelände wandern: Die Gemsheide (Loiseleuria procumbens) duckt sich zwischen Steinen, auf kargen Böden, in Höhen, wo kaum noch etwas wächst. Ihre winzigen, ledrigen Blätter glänzen in der Sonne, ihre zarten rosa Blüten öffnen sich im Frühsommer nur für wenige Wochen. Doch in dieser kurzen Zeit bringt sie Farbe in die raue Welt oberhalb der Baumgrenze.
Die Gemsheide ist eine Überlebenskünstlerin. Sie wächst in kalkarmen, sauren Böden, trotzt Frost und Wind und gedeiht dort, wo andere längst aufgegeben haben. Als sogenannte Pionierpflanze besiedelt sie extrem lebensfeindliche Standorte und trägt so zur Bodenbildung bei – eine leise Architektin der alpinen Matten.
In der alten Alpenmythologie galt sie als Hirtin der Höhen – als Hüterin jener Übergangszone, in der die menschliche Welt endet und die Welt der Götter beginnt. Wer sie entdeckt, hat einen besonderen Ort gefunden: hoch oben, im Reich der Stille.


Isländisch Moos Die alte Seele der Berge
Streng genommen kein Moos, sondern eine Flechte – und doch so tief verbunden mit dem Bild der stillen Alm. Cetraria islandica, das Isländisch Moos, wächst dort, wo die Luft rein, der Boden karg und das Leben reduziert ist. Seine fein gegliederten, graugrünen Lappen bedecken Steine und Böden wie ein zarter Teppich der Zeit.
Diese Flechte lebt in Symbiose – Alge und Pilz geben einander Halt und Nährstoffe. Diese uralte Lebensform ist ein Symbol für Geduld und Verbundenheit. Ihre Bitterstoffe schützten sie vor Fressfeinden und machten sie in der Volksmedizin zu einem bewährten Mittel gegen Husten und Schwäche.
Früher trug man Isländisch Moos auch als Talisman, als Schutz gegen das Verirren im Nebel – der Geist sollte klar bleiben. Wer heute über die Almwiesen des Zirbitzkogels wandert und das Moos unter seinen Füßen rascheln hört, der spürt: Hier wohnt etwas ganz Altes. Etwas, das bleibt, wenn alles andere vergeht.
Almrausch Das Feuer der Sommersonnenwende
Wenn der Almrausch blüht, steht der Sommer in voller Kraft. Die leuchtend roten Blüten des Rhododendron ferrugineum entfalten sich meist im Juni und färben ganze Hänge wie in Flammen getaucht. Es ist ein Schauspiel der Fülle, der Wärme und der Leidenschaft – aber auch ein Hinweis auf die Kraft der Elemente.
Denn der Almrausch ist schön, aber giftig. Seine immergrünen Blätter und ledrige Struktur machen ihn robust, seine Inhaltsstoffe halten Weidetiere und Menschen auf Distanz. In alten Überlieferungen wurde er deshalb zur Sommersonnenwende gesammelt und auf die Dächer gelegt – als Schutz gegen Blitzschlag und Unheil.
Er liebt saure, humusreiche Böden und zeigt dem aufmerksamen Wanderer: Hier ist der Boden unberührt, hier pulsiert das Leben. Wer sich Zeit nimmt, seine Blüte zu betrachten, wird verstehen: Nicht alles, was gefährlich ist, muss gemieden werden – manchmal will es einfach nur bewundert werden.
Übrigens: Der Almrausch war vermutlich auch Namensgeber für den Zirbitzkogel selbst. Der Name „Zirbitz“ wird auf das slawische „zirbiza“ zurückgeführt – was so viel wie „Almrausch“ bedeutet. Ein poetischer Hinweis darauf, wie tief verwurzelt diese Pflanze mit der Identität des Berges ist.


Blauer Enzian – Der stille König der Alpen
Tiefblau, fast unwirklich leuchtend – so zeigt sich der Blaue Enzian (Gentiana acaulis) an klaren Sommertagen auf den Höhenmatten des Zirbitzkogels. Seine großen, trichterförmigen Blüten wirken wie kleine Kelche, geöffnet zur Sonne. Schon aus der Ferne sticht er ins Auge – und dennoch ist sein Wesen zurückhaltend, fast feierlich.
Er wächst bevorzugt auf kalkarmen, nährstoffarmen, sonnigen Almwiesen, oft zusammen mit Almrausch, Krummsegge und Silberwurz. Seine Wurzeln reichen tief, seine Blüte trotzt Regen und Wind. Der Enzian blüht oft nach späten Schneefällen – ein Zeichen für Durchhaltevermögen und Beständigkeit.
In der Pflanzenheilkunde ist der Enzian seit Jahrhunderten berühmt: Die Bitterstoffe seiner Wurzel regen Leber, Galle und Verdauung an. In vielen Bergregionen wird sie zur Herstellung von Schnaps und Tinkturen verwendet – nicht umsonst gilt der Enzian als bittere Medizin mit starkem Charakter.
Symbolisch steht der Enzian für Wahrheit und Klarheit. In der Alpenmythologie war er den Sonnenkräften zugeordnet – sein tiefes Blau als Gegenpol zum strahlenden Licht. Wer ihm auf einer Almwiese begegnet, erkennt: Hier ist etwas in Balance. Wild, ruhig, unverfälscht.
Krummsegge Die leise Architektin des Hochgebirges
Man sieht sie kaum – doch ohne sie wären viele Almmatten nicht das, was sie sind. Die Krummsegge (Carex curvula) gehört zu den unscheinbaren, aber lebenswichtigen Pflanzen der alpinen Zone. Ihre gekrümmten Halme formen dichte Rasen, halten den Boden zusammen und schützen vor Erosion.
Sie wächst dort, wo kaum mehr etwas gedeiht: auf sauren, trockenen, steinigen Böden, oft in steiler Lage. Sie wurzelt tief, wächst langsam, lebt lange – eine Meisterin der Ausdauer. Ihre Beständigkeit macht sie zum Sinnbild für Standhaftigkeit und Kraft im Verborgenen.
Alte Bergbauern kannten sie gut. Ihre Präsenz zeigte an: Hier endet die Weidewirtschaft, hier beginnt das Reich der Gämse und Murmeltiere. Und so steht sie heute wie damals für jene Schwelle, an der der Mensch still wird und das Große beginnt.


Soldanelle die erste Stimme nach dem Schnee
Noch liegt der letzte Schnee in Mulden und Rinnen – da hebt sie schon den Kopf: die Soldanelle (Soldanella alpina). Mit ihren zarten, glockenförmigen Blüten durchstößt sie die Schmelzdecke und kündigt an: Der Frühling ist da. Ihre Farbe – ein sanftes Violett – leuchtet wie ein Versprechen.
Sie wächst auf feuchten, kühlen Standorten, liebt Schneeböden und hat gelernt, mit dem kurzen Sommer der Alpen umzugehen. Ihre Blüten erscheinen oft, während rundherum noch Eiskristalle glitzern. Eine Pflanze der Geduld – und des rechten Moments.
In der Bergsymbolik steht sie für Neuanfang, für den Mut, aufzubrechen. Wer sie findet, darf hoffen: auf Wärme, auf Licht, auf ein neues Kapitel. Ihre Blüte ist nicht laut – aber sie ist eindeutig. Und manchmal reicht das.
Alpenanemone – oder Kuhschelle Die Königin im Pelz
Wenn der Frühling in die Höhe zieht, dann erscheint sie: die Alpenanemone (Pulsatilla alpina), auch Kuhschelle genannt. In ihrem weißen Pelz, der sich wie Raureif über Stängel und Blätter legt, wirkt sie beinahe majestätisch. Ihre Blüte öffnet sich der Sonne, ihre Samen tanzen im Wind – sie ist eine echte Erscheinung.
Die Alpenanemone wächst auf kalkreichen, luftigen Standorten in mittleren bis hohen Lagen. Sie ist ein Frühblüher, der die erste Wärme nutzt und schon bald nach der Schneeschmelze in Erscheinung tritt. Ihre Haare schützen sie vor Frost und Austrocknung – ein perfekter Mantel in der rauen Bergwelt.
Sie gilt als Symbol für Vergänglichkeit – und zugleich für das Wiederkommen. Ihre Schönheit ist kurz, aber eindrucksvoll. Und so erinnert sie uns daran, dass das Wesentliche oft nicht laut auftritt. Sondern einfach da ist – im richtigen Moment

Dein Natururlaub wartet
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